D e r Z u g n a c h d e m O s t e n .
Veröffentlicht in den Nachrichtenblättern
der Arbeitsgemeinschaft Wichert im Juni 1939
Tritt
der Name W i c h e r t auch in Westfalen auf, in
der Schweiz, im Rheinland und in Hamburg, so
scheint es doch, dass seine eigentliche Heimat
der Osten Deutschlands ist. Der Aufsatz unserer
heutigen Folge schildert deshalb einmal in
grossen Zügen die Wanderungen nach dem Osten
durch die Jahrhunderte. Er möchte mithelfen, ein
anschauliches Bild vom Werden des deutschen
Ostens zu schaffen und damit eine lebendigere
Vorstellung vermitteln von dem, was unsere
eigenen Vorfahren erlebten und wollten. Gerade
der Osten ist in steter Bewegung, immer neuen
Veränderungen unterworfen, unsere Ahnen nahmen
Anteil an ihnen, schufen sie vielleicht an
führender Stelle mit. - Weitere Aufsätze in den
nächsten Folgen sollen einzelne Wanderungen
gesondert behandeln: so soll einer berichten
über die Holländer, ein anderer über die
Mennoniten, ein dritter über die Salzburger, ein
vierter über die Württemberger.
Die Besiedlung des deutschen Ostens
und die Wi(e)cherts.
Die Adressbücher des Reiches, soweit sie uns
vorlagen, zeigen das häufigste Vorkommen des
Namen Wichert in Ostpreussen und dem angrenzenden
Korridor. Von den 48 Mitgliedern der
Sippengemeinschaft Wichert ist bei 45 zum
mindesten noch der Grossvater aus dem Osten, bei
einem Teil der 45 sogar noch der Vater. Dasselbe
gilt für die meisten Wicherts und Wiecherts des
Industriegebiets an Rhein und Ruhr. Letztere sind
zum Teil erst nach dem Versailler Vertrag, der
uns Westpreussen und Posen entriss, in diese
Gebiete gekommen. Wir müssen daher annehmen,
dass der deutsche Osten die eigentliche Heimat
der Wicherts ist. Ist nun der Osten auch ihre
ursprüngliche Heimat? Oder woher kommen sie
sonst? Diese Fragen können wir heute noch nicht
beantworten. Wir hoffen aber, dass wir der
Lösung dieser Aufgabe näher kommen, wenn wir
die Besiedlung des Ostens in grossen Zügen
betrachten und dabei überlegen, was wir von den
Wicherts aus den von uns angeschauten Zeiträumen
wissen.
In der ersten Folge unseres Mitteilungsblattes
wurde bei der Namenserklärung schon gesagt, dass
"Wichard" "harter Kämpfer"
heisst und dass es ein gotisches und
althochdeutsches Wort ist. Da fällt uns ein,
dass in die bereits seit der jüngeren Steinzeit
von Germanen besiedelten Provinzen Ost- und
Westpreussen etwa 100 Jahre vor unserer
Zeitrechnung die Rugier und Goten einzogen. Sie
kamen zu Schiff von Gotland her und siedelten in
dem noch unbewohnten Weichseldelta. Zwischen 200
und 300 nach Christus zog der grössere Teil von
ihnen aus uns unbekannten Gründen
weichselaufwärts und machte erst spät halt, die
Ostgoten in der Ukraine, die Westgoten an der
Donau. Erstere wanderten später weiter nach
Norditalien, letztere nach Spanien Sie gaben den
Zusammenhang mit ihrer Weichselheimat nicht auf;
einzelne von ihnen kehrten nach dem Untergang
ihrer Reiche dorthin zurück. Im Nibelungenlied
hat der Gefolgsmann des Ostgoten Dietrich von
Bern, der sich in den Kämpfen besonders
auszeichnet, den Namen Wichart.
Haben nun die zurückgebliebenen oder wieder
heimgewanderten Goten den Namen Wichard
überliefert, der als Vornamen üblich war, und
ist er im 12. Jahrhundert beim Aufkommen der
Familiennamen als solcher festgelegt worden? Oder
war der Name Wichard als Vorname auch in den
übrigen deutschen Landen gebräuchlich? Das ist
tatsächlich der Fall. Für das Jahr 945 ist
Wichard als Vorname belegt. In Seibertz, Westf.
Urkundenbuch Nr. 7 ist eine Urkunde König Ottos
zur Gründung des Stiftes Geseke in Westfalen
erwähnt, in der von einem Grafen Wighard aus
Geseke die Rede ist. Der adelige Zweig der
Familie Wichert führt seinen Ursprung auf
"Oberwestfalen" zurück, obwohl die
ältesten Urkunden dieser Familie aus
Preussisch-Mühlhausen in Ostpreussen stammen. -
Wann könnten die Wicherts nach Preussen gekommen
sein? Die Lücken, die durch die Abwanderung so
vieler Germanen im 2. Jahrhundert in den
Preussischen Landen geblieben waren, wurden nach
und nach wenigstens teilweise ausgefüllt durch
das Einsickern der Pruzzen und der Kassuben (ein
indogermanisches Völkergemisch). Mit ihnen haben
die Wicherts nichts zu tun; ihr Name ist echt
germanisch. Immer noch waren die Länder an der
Weichsel dünn besiedelt, reine Slaven gab es
dort nicht, diese waren weiter südlich und
westlich vorgedrungen und lagen seit 919 zur Zeit
Heinrichs I. mit dem wieder vorrückenden
Deutschtum im Kampf. Im 9. Und 10. Jahrhundert
war das Land zwischen Elbe und Weichsel fast ganz
für das Deutschtum zurückgewonnen und durch
Bauern aus dem ganzen Reich besiedelt worden. Ja,
Polen war sogar als christlich gewordener Staat
dem deutschen Kaiser als dem Schirmherrn der
Christenheit lehenspflichtig, und polnische
Fürsten riefen deutsche Siedler ins Land, weil
diese wirtschaftlich den Polen voraus waren.
Einzelne Siedler aus Pommern, Westfalen, Holland
und Flamland sind damals schon in das
Weichselgebiet gekommen, und Ritter und Krieger
aus den genannten Ländern waren wohl schon bei
den Grenzkämpfen Heinrichs des Löwen
(1156-1180) als Vorhut des Reiches bis zur
Weichsel vorgedrungen. Zwischen die dünn
siedelnden Slaven wanderten die Niederfranken,
Westfalen, Niedersachsen, Flamen und Holländer
ein. Letztere waren durch das Meer von ihren
Wohnsitzen vertrieben. Sie erhielten mehr Land
zugeteilt, als sie je in der Heimat besessen
hatten und grössere Freiheiten und lebten
friedlich zwischen den Slaven. Waren Wicherts
wohl unter ihnen? Aus so früher Zeit ist uns der
Name Wichert nicht urkundlich belegt als
Familienname. Solche traten erst im 12.
Jahrhundert auf, zunächst bei dem hohen Adel,
dann beim niederen, im 13. und 14. Jahrhundert
bei den Bürgern und im 15. erst bei den Bauern.
Der für 945 schon belegte und von uns erwähnte
Name des Grafen Wighard ist ja noch kein
Familienname, ebensowenig wie der des Mönches
Wichard in einem schottischen Kloster um 1100
oder der in einer von einem unserer Mitglieder im
Codex D. Antonii Faure Regius 4200 aus der Kirche
Saint Pierre zu Mâcon gefundene Eintragung von
1150: "Obiit Wicardus presbiter et
canonicus". Wo dieser Vorname auch immer
auftritt, nirgends ist die Gewähr für eine
Blutsverwandtschaft mit den Wicherts gegeben. Aus
dem 11., 12. und 13. Jahrhundert sind auch wohl
keine Belege für das Auftreten der Wicherts zu
erwarten, es sei denn, sie hätten dem hohen Adel
angehört, wie die geadelte Familie Wichert auch
behauptet. Im 13. Jahrhundert wäre die
Erwähnung des Namens Wichert immerhin noch
möglich, wenn es damals schon geachtete
"Patrizier" unter ihnen gegeben hätte.
In das 13. Jahrhundert fällt der Beginn der
Tätigkeit des Deutschen Ordens. Er wurde 1231
durch den polnischen Herzog Konrad von Masowien
nach Preussen gerufen und setzt die Besiedlung
der preussischen Lande durch holländische,
flämische, westfälische und pommerische, selten
auch rheinische Bauern fort. Der Deutsche Orden,
der eigentlich zur Pflege der kranken und
verwundeten Kreuzritter, sowie zur Verteidigung
des heiligen Landes ins Leben gerufen worden war,
verlegte, als er nicht genug Betätigung fand,
sein Arbeitsfeld nach Europa und sah fortan die
Bekehrung der europäischen Heiden als seine
vornehmste Pflicht an. Da bot der Hilferuf
Konrads von Masowien die Gelegenheit unter dem
Hochmeister Hermann von Salza, das Werk in
Preussen zu beginnen. Der Papst sowie der Kaiser
erlaubten dem Orden, das eroberte und bekehrte
Land zu behalten. Der Beginn des Ordensstaates
war das von Konrad von Masowien dem Orden
zugewiesene Kulmer Land im Weichselknie östlich
von Thorn. Später kamen dazu nicht nur
Ostpreussen, die Neumark und Litauen, die vom
Orden erobert wurden, sondern auch Estland,
Livland und Kurland durch Kauf und Tausch. Der
Orden legte zahlreiche Städte an, seine
Eroberungen zu befestigen: 1231 Thorn, 1232 Kulm,
1237 Elbing, 1241 Braunsberg, 1255 Königsberg,
1290 Preussisch Holland, 1332 Bartenstein, 1327
Mühlhausen. In Braunsberg erwerben 1345 Heyne
Wichardi, 1346 Tidico Wichardi und sein Bruder
Heynico, 1346 Heyne Wichardi aus Demyten und im
Jahre 1347 Albertus Wichardi von Blumenberg, aus
den umliegenden Dörfern kommend, das
Bürgerrecht in Braunsberg. In Mühlhausen sollen
schon kurz nach der Gründung Wicherts auftreten.
In Königsberg war 1472 Hans Wichart Mitglied des
Kneiphöffschen Junkergartens. Er war also
Patrizier. 1519 war Albrecht Wichert daselbst
Mitglied. Im Thorner Schöppenbuch ist ein
Heinrich Wichert erwähnt, der 1425 aus Westfalen
kommt, um den Schichtenteil der Erbschaft seines
Schwagers in Empfang zu nehmen. Ob wohl alle
Wicherts aus Westfalen kommen? Im 15. Und 16.
Jahrhundert ist der Name Wichart in Westfalen
häufig, im Hundertsatz häufiger als jetzt. 1432
ist Henke Wichert geschworener Richter in
Steinheim bei Paderborn. 1457 ist Henning Wichert
Bürger von Göttingen. Wichard Wichardi von
Warburg ist 1449 Student in Bologna und
Prokurator der deutschen Studentenschaft. Johann
Wichard ist 1530 Priester an der Domkirche von
Paderborn. 1601 war ein Wichard Schulze von
Osterwieck bei Coesfeld. Der Halberstädter Vikar
Conrad Wichard, der aus Warburg stammte, stiftet
gemeinsam mit seinem 1476 geborenen Vetter Otto
Beckmann ein Stipendium für Studenten der
Familie Wichard und Beckmann. Schliesslich
gedenken wir noch des unglücklichen Liborius
Wichart, Bürgermeister aus Paderborn, der zur
neuen Lehre übergetreten war und daher im Jahre
1604 grausam hingerichtet wurde und dessen Frau
und 7 Söhne vertrieben wurden. Wir sammelten nur
verhältnismässig wenige Daten bisher und wissen
daher auch nicht, ob es in Ost- und Westpreussen
frühere Erwähnungen der Sippen Wichert gibt.
Endgültig lässt sich die Frage, ob die Wicherts
aus Westfalen kommen, erst dann entscheiden, wenn
jedes Glied der Sippengemeinschaft die Archive
seines Heimatortes auf Wicherts hin untersucht,
ihr frühestes Vorkommen festgestellt und der
Sippengemeinschaft mitgeteilt hat. Erst dann
lässt sich erkennen, wo sie am frühesten
auftraten und ob die Sippen auf eine oder mehrere
Wurzeln zurückgehen.
War der Vorname Wichard häufig, so ist
anzunehmen, dass er an mehreren Orten zugleich
zum Familiennamen wurde, die Stämme Wichert
somit aus verschiedenen Wurzeln hervorwachsen.
Während heute in Ostpreussen und dem Korridor
die meisten Wicherts vorkommen, sind sie in
Westfalen seltener geworden.
Was nun noch zu berichten ist über den
Fortgang der Besiedlung des Ostens, lässt sich
nicht mehr mit der Herkunftsfrage der Wicherts
verknüpfen. Sie waren ja im 14. Jahrhundert
schon da. Die Kämpfe des Deutschen Ordens, die
Gewinnung von Neuland durch Kampf und Kauf wurde
für sie von Bedeutung dadurch, dass sie am Kampf
teilgenommen haben können oder in das Neuland
abgewandert sind. Der adelige Zweig der Familie,
die mit Johann, dem Schulzen von Niklauken
anhebt, behauptet die Auswanderung nach Litauen
für einen Teil seiner Familie. Ebensowenig
spielt die zweite grosse Bauernsiedlung, die
unter Albrecht, dem letzten Hochmeister des
Ordens, zur Rettung des Ordenslandes beginnt,
für die Herkunft der Wicherts eine Rolle, sie
hat lediglich Bedeutung für die Herkunft ihrer
Frauen. Um das festzustellen, müssen die
Namenlisten noch weit nach rückwärts
vervollständigt und mit den Siedlerlisten
verglichen werden. Die zweite Bauernsiedlung
beginnt 1525 nach der Umwandlung des Ordenslandes
in ein weltliches Herzogtum und dem Übertritt
Herzog Albrechts zum protestantischen
Glaubensbekenntnis. Wieder waren die Siedler
Holländer, Westfalen und neuerdings auch
Schotten und Böhmen. Trotz dieses Versuchs einer
Neubesiedlung rücken die Polen vor und an ihrem
Vordringen kann auch das Übersiedeln der
Mennoniten und anderer vertriebener Neugläubiger
im 16. Jahrhundert nach Preussen wenig ändern.
Vor der gegen die Polen verlorenen Schlacht bei
Tannenberg 1410 ab bis zum Ende des Ordensstaates
1525 hatte der Orden alle Länder bis auf
Preussen an die Polen verloren. Der Adel
versuchte, durch Aufgabe der deutschen Sprache
und der deutschen Namen Stimme und Sitz im
polnischen Landtag zu gewinnen. So handelten die
Wicherts nicht. Ihr Name blieb unverfälscht
erhalten und ihre Sprache blieb deutsch, obwohl
Westpreussen ausser Danzig, Elbing und Thorn 1569
bis zum Jahre 1772, also bis zur ersten Teilung
Polens, in polnischen Händen und unter
polnischer Verwaltung war und Ostpreussen, bis es
1618 dem brandenburgischen Kurfürsten
übertragen wurde, trotz deutscher Verwaltung
unter polnischer Lehenshoheit stand. Die Hanse,
die während der Schutzherrschaft des Deutschen
Ordens in Preussen und in den Baltischen Ländern
sehr geblüht und das Deutschtum gestützt hatte,
verlor einen Umschlagsplatz nach dem anderen, als
der Beschützer stürzte, und das Deutschtum
verlor seine Stütze. Viele Katastrophen suchten
die Ostsiedler heim vom 14. - 17. Jahrhundert und
verminderten ihre Zahl. Im Dreissigjährigen
Kriege vernichteten die Schweden zahlreiche
Siedlungen und erschlugen die Bewohner. Der
schwarze Tod entvölkerte noch weiter das Land.
Zuletzt 1708 - 1710 wütete er noch einmal und
vernichtete viele Tausende Menschenleben,
darunter eine grosse Anzahl Siedler; manche Namen
erloschen vollends. Wicherts überdauerten all
dieses Unglück und diese Vernichtung. - Solch
starke, gesunde, selbst- und deutschbewusste
Familien mussten aufblühen, als neue deutsche
Siedler und damit neues Blut ins Land strömten.
Von der Hohenzollernherrschaft ab können wir
schon besser verfolgen, dass manche der Wicherts
von diesen Siedlern ihre Frau und einen neuen
Glauben gewannen. Oder wie sollte man es sich
erklären, dass es mennonitische Wicherts in der
Weichselniederung gibt? Abenteuerlicher wäre es
schon, wen sie ihre Herkunft zurückführten auf
den Berendt Wichards "Uthrider offte
veltschütte" (wörtl. übersetzt:
"Ausreiter oder Feldschütze") bei Johann v.
Leyden, dem Gründer der Wiedertäufersekte! Es
kann ja sein, dass d i e s e Wicherts mit den
Holländern und Westfalen im 16. Jahrhundert
einwanderten. Ausser den Mennoniten werden nach
den Pestjahren 1708-1710 durch Friedrich I und
Friedrich Wilhelm I französische Schweizer und
Hugenotten angesiedelt und um 1732 die
Salzburger. Von diesen Salzburger Protestanten
stammt die Frau des 1902 gestorbenen Dichters
Ernst Wichert: Therese Schwarzenberger. Die
Glaubensgegensätze zum katholischen Polentum
halfen das Deutschtum der Siedler erhalten. In
unseren Tagen war ja katholisch und polnisch,
protestantisch und deutsch fast gleichbedeutend.
Friedrich der Grosse siedelte neben anderen
Deutschen von 1776-1787 die Württemberger an,
doch nahm er ebensogern billige Litauer, die
weniger Meilengelder kosteten und die auch
geringere Ansprüche hatten. 1830 suchte die
russische Sekte der Philipponen Zuflucht in
Ostpreussen. Nach 1918 wanderten wolhynische
Deutsche nach Ostpreussen zurück, während
730000 Deutsche aus Westpreussen und Posen meist
ins Industriegebiet abwanderten.
Die Neusiedlungen und Wanderungen seit
Friedrich dem Grossen brachten dem Deutschtum
keine grossen Gewinne mehr. Wicherts waren auch
unter denen, die 1918 vor den Polen flüchteten
und die Heimat für das Vaterland eintauschten.
L.W.S.
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