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Borius Wichart – Ein Beitrag zur Genealogie der Familie


Mein Großvater Johannes Wiegard, von uns Kindern der Scherfeder Opa genannt, war ein korrekter und angesehener Malermeister in dem kleinen Ort Scherfede in Westfalen. Er starb 1964 am Begräbnistag meines Vaters. Ich war damals gerade sechs Jahre alt, und habe ihn nur noch dunkel als alten, zeitungslesenden Mann in einem großen Sessel in Erinnerung. Neben so manchen Erinnerungen erzählte meine Mutter irgendwann einmal, dass in seinem Bücherschrank ein Buch gestanden habe über einen bedeutenden Bürgermeister aus der Familie. Ich begann nachzuforschen und fand heraus, dass der Paderborner Bürgermeister Liborius Wichard um 1600 gemeint war. Bei dem Buch handelte es sich um einen Roman von Max Wegner „Borius Wichart“ aus dem Jahr 1939. Für die Ideologie der Nazis wurde diese historische Romanfigur benutzt: „In dem Bürgermeister Borius Wichart erwächst das Sinnbild des kämpferischen, unbeugsamen deutschen Mannes ...“ (Zitat aus dem Vorwort). Über die Bibliotheksfernleihe lernte ich dieses Buch bald näher kennen. Wie gesagt handelt es sich in diesem Buch um ein Naziverbrämtes Zerrbild der historischen Figur. Einige Zeit später entdeckte ich zufällig genau dieses Buch auf einem Bücherflohmarkt, wo ich es für wenige Groschen erwerben konnte. Die Geschichte des Borius Wichart fesselte mich und ich versuchte zunächst weitere Sekundärliteratur zu finden: An erster Stelle steht die wissenschaftlich fundierte Arbeit von Dr. Rainer Decker, „Der Kampf um Paderborn“, Paderborn 1991. Weitere Abhandlungen: Ricarda Huch, „Im alten Reich – Lebensbilder deutscher Städte“, Bremen 1927; Klemens Honselmann, „Der Kampf um Paderborn 1604 und die Geschichtsschreibung“, Westfälische Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde, 118. Band, S.229-338, Regensburg/Münster 1968.

Wer war Borius Wichart?

Als Liborius Wichard alias Tiemann wurde er um das Jahr 1545 in Paderborn geboren. Sein Vater war der Bürger Jasper Tiemann, der vor 1571 nach einem Streit im Weinkeller einen gewaltsamen Tod gefunden hatte. Der Großvater hieß Cort Wichard. Über die ersten 40 Jahre seines Lebens gibt es keine Informationen. Vermutlich hatte er den Beruf des Lohgerbers erlernt. Der Chronist und Zeitzeuge Martin Klöckner beschreibt ihn als „scharfsinnig und wohlberedt“, von „vortrefflichen, frommen Eltern geboren und ziemlich begütert“. Man sagt ihm aber auch Eigensinn und „trotziges, hitziges Gemüt“ nach. Zahlreiche Gerichtsunterlagen zeugen von vielen Streitigkeiten.
Um das Jahr 1586 hatte er Paderborn verlassen. Es hatte wohl Meinungsverschiedenheiten mit den Stadträten gegeben, er durfte aber eine viertel Meile vor der Stadt mit Erlaubnis des Bischofs ein Haus bauen, das jedoch von feindlich gesonnenen Bürgern bald zerstört wurde. Verbittert wurde er Gastwirt in Scherfede, wo nach einigen Jahren seine erste Frau starb. Durch die Heirat mit der Witwe Dornemann kam er daraufhin nach Warburg. Sie war aus erster Ehe mit einem Verwalter des dortigen St. Petri-Hospitals sehr begütert. 1601 erfolgte die Rückkehr der Familie nach Paderborn. Er war jetzt ein vermögender Lohgerber. In diesen Jahren gab es Unmut innerhalb der Paderborner Bürgerschaft wegen Misswirtschaft und Veruntreuung städtischer Gelder durch die Ratsmitglieder. Die Steuerfreiheit und weitere Privilegien des Domkapitels und der Ritterschaft benachteiligte die Bürgerschaft und die städtischen Interessen. In der Bürgerschaft bildeten sich oppositionelle Gruppen, die gleichzeitig städtische Autonomie gegenüber dem katholischen Landesherrn , Bischof Dietrich (Theodor) von Fürstenberg (1546-1618) und Anerkennung der protestantischen Konfession anstrebten. Daraus entstand der Kampf um Paderborn, der sich Ende 1603 zuspitzte. Dietrichs Bemühungen im Sinne der Gegenreformation wurden unterstützt durch eine Aufforderung des Kaisers an die Domherren, die Ritterschaft und die Städte, ihrem Bischof und Landesherrn in geistlichen und weltlichen Belangen gehorsam zu sein. Borius Wichart als ein Anführer der städtischen Oppositionsbewegungen bemühte sich um einen Beistandspakt mit dem protestantischen Landgrafen Moritz von Hessen. Von Bischof Dietrich wurde dies als eine Rebellion gegen seine eigenen Ansprüche und Interessen gewertet. Borius Wichart als furchtloser Kritiker steckte also mitten in einer Anhäufung von Problemen: Pfründewirtschaft, Uneinigkeit innerhalb der Bürgerschaft, reformatorische Bestrebungen von katholischer Seite.
Am 10. Januar1604 wählte man Borius Wichart zum neuen Bürgermeister der Stadt Paderborn. Vom 23.-26. April 1604 eskalierte der Konflikt. In kurzer Zeit hatten die Paderborner sich militärisch aufgerüstet, denn es kam zum Kampf um Paderborn gegen die angeheuerten Truppen des katholischen Grafen Johann von Rietberg. Eine interne Intrige führte zur Gefangennahme des Bürgermeisters am 26 April 1604. Er wurde an den Schandpfahl gebunden, gefoltert und ihm wurde eilig der Prozess gemacht. Von vorneherein ohne Chancen verurteilte man ihn zum Tode. Am 30. April 1604 wurde das Urteil in Anwesenheit von Bischof Dietrich vollstreckt. Berichte über die grausame Hinrichtung sprechen vom Herausreißen des Herzens und Vierteilung. Zur Abschreckung wurden sein zerstückelter Körper und der Kopf an den fünf Toren der Stadt aufgehängt, wo sie 18 Jahre verblieben.

Bei einem Besuch des Pfarramtes Scherfede im Jahr 1995 konnte ich Anhand der Kirchenbücher die Genealogie der Familie Wiegard (Wichert, Wichard, Wigart) über 10 Generationen bis hin zu Bernd Wichard (geb. um 1685, Hochzeit 1708) zusammenstellen. Aus der Abhandlung Decker ist der Stammbaum von Großvater, Vater und Kindern des Liborius Wichard teilweise bekannt. Leider fehlen Daten zwischen meinem Urahnen Bernd Wichard und der Stammtafel des Liborius von zwei, vielleicht drei Generationen. Um 1700 gab es offensichtlich nur eine Familie Wichart in Scherfede. Etwa 100 Jahre vorher hatte Liborius Wichart eine Gastwirtschaft in Scherfede betrieben, und so scheint es mir legitim, hier eine eindeutige und direkte Verbindung anzunehmen.

Eine historische Wertung und Einschätzung des konfessionellen, politischen und persönlichen Kampfes um Paderborn will dieser Beitrag nicht sein. Dazu bedarf es eines größeren Fachwissens und fundierterer Geschichtsforschung. Es handelt sich vielmehr um einen genealogischen „Mosaikstein“.
Von Cort (Konrad) Wichard bis hin zu den heutigen Wiegard-Kindern oder auch zu meinen eigenen Kindern kann man 16 Generationen zählen. Menschen wurden geboren, heirateten, starben; Eine hohe Kindersterblichkeit war bis vor wenigen Jahrzehnten die Regel; Menschen erlebten Kriege oder wurden gar hingerichtet; Mit Sicherheit gab es aber auch tausende schöne und frohe Stunden. Niemals konnte man soviel über seine Vorfahren herausfinden wie heute.

Reinhold Schneck, Wittlich                                                                                                     (März 2002)

 

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