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G. Angenheister: Emil Wiechert (Sein Leben und Wirken)


Emil Wiechert

von Gustav H. Angenheister

Emil Wiechert ist am 26. Dez. 1861 in Tilsit geboren, in Ostpreußen. Die Jugend war nicht leicht. Sein Vater, der Kaufmann Johann Wiechert, starb, als der Sohn, das einzige Kind, wenige Jahre alt war. Die Lebensverhältnisse der Familie erfuhren dadurch eine erhebliche Beschränkung. Die Mutter zog mit dem Knaben nach Königsberg. Er sollte das Realgymnasium besuchen, nachher die Universität.

Mutter und Sohn lebten zusammen, opferbereit für einander und eng verbunden durch alle Geschehnisse seines Lebens, die auch den Inhalt des ihrigen bildeten; bis zu ihrem Tode, nach 66 Jahren gemeinsamen Lebens, eine Mutter von seltener Einfachheit und Gradlinigkeit des Gefühls; in hoher Achtung bei allen, die sie näher kannten.

Herbst 1881 erhielt Wiechert das Reifezeugnis. Er studierte Physik bei Vollkaufmann, war sein Assistent und promovierte am 19. Februar 1889 bei ihm. 1890 habilitierte er sich an der Universität Königsberg für Physik.

Seine Königsberger Arbeiten beschäftigen sich mit der Konstitution der Materien seiner Dissertation über die elastische Nachwirkung mit den molekularen Eigenschaften; in seinen experimentellen Studien über Kathodenstrahlen mit der atomaren Struktur der Elektricität. Daran schlossen sich theoretische Arbeiten über das Wesen der Elektricität.

Diese Arbeiten erregten die Aufmerksamkeit der Göttinger Physiker Riecke und Voigt. So kam er 1891 nach Göttingen.

Die Geophysik, vor allein Geodäsie und Erdmagnetismus, war in Göttingen seit Gauß im Anschluß an die Astronomie gepflegt worden. Nach Webers Rücktritt 1868 wurde die Sternwarte in zwei Abteilungen geteilt: praktische Astronomie unter Klinkerfues, theoretische Astronomie, Geodäsie und Erdmagnetismus unter Schering, starb Ende 1897.

In Göttingen entstand damals unter der geistigen Führung von Felix Klein eine Reihe naturwissenschaftlicher Institute. Die Anwendung mathematischen und physikalischen Wissens war ihre Aufgabe, auf die Chemie, auf technische Probleme; eine glückliche eines zu ausschließlichen Strebens nach theoretischer Erkenntnis.

Nach Scherings Tod wurde nun die Professur Scherings weiter geteilt in zwei Extraordinariate in theoretische Astronomie und in Geophysik. Ein geophysikalisches Institut wurde geplant. So wurde die Geophysik selbständig. In Königsberg hatte sich Wiechert mit geophysikalischen Fragen beschäftigt, insbesondere mit der Massenverteilung im Innern der Erde. Im Januar 1898 wurde ihm die außerordentliche Professur für Geophysik übertragen. Sofort wurde der Plan zum Neubau eines Instituts für Geophysik entworfen. Herbst 1899 begannen die Arbeiten auf dem Hainberg. Nach 2 Jahren konnte das Hauptgebäude bezogen werden. Die Arbeitsgebiete waren Seismik, Erdmagnetismus, Luftelektricität und Meteorologie. Die Vorlesungen erstreckten sich auf diese Gebiete und auf den Unterricht in der niederen Geodäsie. Die Hauptarbeit des neuen Institutes lag in den folgenden Jahren auf dem Gebiet der Seismik. Instrumente mußten gebaut werden; der Beobachtungsdienst mit diesen Instrumenten, in Göttingen in Deutschland und darüber hinaus organisiert werden, die Ausbreitung der Erdbebenwellen untersucht werden.

Die Erdbebenkunde befand sich damals in der ersten Entwicklung. Schon seit Jahrzehnten hatte man in den erdbebenreichen Ländern versucht, Seismoskope zu bauen, ungedämpfte Pendel geringer Vergrößerung. Bei der Ankunft der Erdbebenwellen gerieten sie in Eigenschwingung. Es fehlte indes an getreuer Abbildung der Bodenbewegung, an richtiger Deutung der Wellennatur und an einer Auswertung dieser Beobachtung für den verborgenen Aufbau des Erdinnern. Das neu gegründete geophysikalische Institut stand also vor großen Aufgaben.

Eine Studienreise führte Wiechert 1899 durch die seismischen Stationen in Italien. Gleich nach der Rückkehr beginnt eine sehr lebhafte Tätigkeit, gleichzeitig der Bau automatischer Seismographen und die Ausarbeitung einer Theorie dieser Instrumente. Hiernach verhält sich ein Seismograph wie ein Pendel, das die Bewegung seiner Maße durch ein Hebelsystem vergrößert aufschreibt. Für diese Vergrößerung der Bewegung ist die Verteilung der Maße längs des Hebelsystems von größter Bedeutung. Die freie Eigenschwingung des Pendels wird durch Einführung einer Luftdämpfung ertötet. Die Aufzeichnung geschieht durch eine feine Platinfeder auf berußtem Papier. Zur Verminderung der Reibung in den Gelenken werden Kreuzfedergelenke angewendet. Der Rest der Reibung besonders an der Schreibfeder wird durch eine groß gewählte stationäre Masse überwunden. Die Fernbeben besitzen in den Vorläufern vorwiegend Perioden von 6 bis zu 12 sec. Soll die Hebelvergrößerung bei diesen Schwingungen voll wirksam werden, so muß die Eigenperiode des Seismographen mindestens ebenso groß sein. Beim Fadenpendel würde dies eine praktisch unmögliche Pendellänge von 36 m verlangen. Das asiatische Pendel, als Wiechertscher Horizontalseismograph bekannt, gibt eine glückliche Lösung. Ein umgekehrtes Pendel von etwa 1 m Länge und einer Masse von 1200 kg dreht sich unten um ein kardanisches Federgehänge; oben wird es durch den Druck dünner Blattfedern aus Stahlblech in seiner Ruhelage gehalten. Diese Federn liefern die Direktionskraft und bestimmen die Eigenperiode des Pendels Bei sehr sorgsamem Ausbalanzieren können dünne Federn verwendet und dadurch eine Periode von 12, selbst 15 Sekunden erreicht werden.

Die Bodenbewegung wird (9-00?) bis 300 fach vergrößert. Eine Verschiebung von 1/1ooo mm, eine Neigung von 1/1oo mm wird noch deutlich (rund 1/4 mm groß) in das berußte Papier eingekratzt. Für besondere Zwecke, Nachbeben, künstliche Erschütterungen werden besondere Seismographen gebaut, je nach den Anforderungen mit kleiner oder großer Vergrößerung , zehn- bis fünfzigtausendfach;. mit kurzer oder langer Periode, von 1 bis 60 sec; mit photographischer oder Rußschreibung, mit winzigen oder großen Gewichten, Gramm bis Tonnen. Die Reibung des Rußschreibers beträgt etwa 1 dyne, ist also nahe gleich dem Druck von 1 mgr. sie wirkt am Ende des Hebelarmes. Bei 2000 facher Vergrößerung und bei nur 1 sec Eigenperiode verlangt ihre Überwindung, doch schon mehrere Tonnen stationäre Pendelmasse. Ein solcher Seismograph, mit 17 Tonnen stationärer Masse, wurde gebaut.

Neben diesen seismischen wurden magnetische und insbesondere luftelektrische Arbeiten betrieben. Alle diese geophysikalischen Arbeiten fanden eine weitgehende Unterstützung von Seiten der Gesellschaft der Wissenschaften in Göttingen. In dieser hatte sich damals eine geophysikalische Kommission gebildet, der Wiechert seit 1903 angehörte. Zwei Unternehmen waren es vor anderen, die die Gesellschaft mit der Geophysik und dem geophysikalischen Institut verband: die Luftelektrische Kommission im Rahmen der kartellierten Akademien und das Samoa-Observatorium der Gesellschaft der Wissenschaften.

Aus dem luftelektrischen Fond, den die Regierung der geophysikalischen Kommission der Gesellschaft zur Verfügung stellte, konnten ein besonderer Assistent für luftelektrische Arbeiten und hinreichende sachliche Ausgaben bestritten werden. Auch hier mußten Instrumente und Beobachtungsmethoden ersonnen werden. Potentialgefälle Leitfähigkeit, Regenelektricität wurde studiert, Probefahrten im Freiballon zur Messung des elektrischen Zustandes hoher Luftschichten wurden unternommen, auf Seereisen im Atlantik, Pacific und Indic, auf Inseln im freien Ozean, auf Samoa, auf Island wurde gemessen. Die vielen und schönen Ergebnisse dieser Arbeiten, des geophysikalischen Institutes sind für die Entwicklung der luftelektrischen Forschung von höchster Bedeutung geworden.

Das zweite Unternehmen wuchs aus der Erkenntnis, daß die großen Fragen der Geophysik nur lösbar sind durch das Zusammenwirken eines Netzes geophysikalischer Stationen, das die ganze Erde umspannt. Auf Betreiben von Illermann Wagner entschloß sich im März 1901 die Gesellschaft der Wissenschaften, in Samoa ein geophysikalisches Observatorium zu gründen, zunächst als temporäre Station für erdmagnetische, seismische und luftelektrische Messungen gedacht, und zwar standen hier die erdmagnetischen Arbeiten an erster Stelle. Die erheblichen dazu erforderlichen Geldmittel wurden zur Hälfte vom Reich, zur Hälfte von Preußen zur Verfügung gestellt. Dem Unternehmen der Gesellschaft stand ein Kuratorium vor, bestehend aus Wagner, Riecke und Wiechert unter Wagners Vorsitz. Die Vorbereitungen wurden im Geophysikalischen Institut getroffen. 20 Jahre stand das Samoa-Observatorium unter deutscher Leitung. Das Göttinger Institut war während dieser Zeit in allen instrumentellen, methodischen und rechnerischen Arbeiten die Basisstation, das Mutterhaus. Hier wurden die Instrumente größtenteils gebaut, die anderen geprüft. Hier wurden die Observatoren ausgebildet, die Arbeitspläne entworfen, die Beobachtungen verarbeitet, die Drucklegung geleitet. Bei all diesen Arbeiten war Wiechert unermüdlich bereit zu raten und zu helfen. Seit dem Rücktritt Warmers als Vorsitzender des Kuratoriums, 1910, hatte er auch die umfangreiche geschäftliche Leitung in Göttingen.

Diese mannigfache Tätigkeit nahm Wiechert sehr in Anspruch. Er war stets äußerst beschäftigt, er hatte wenig Zeit. Er ging ganz in seiner Arbeit auf. Im Haus, im Garten, in der Eisenbahn, selbst auf seinen beliebten Spaziergängen nach Nikolausberg, wo man ihn immer traf, stets war er mit seinen Plänen beschäftigt, er zeichnete, rechnete, letzteres mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit.

Fast hätte er über dieser Vielbeschäftigtheit die wichtigsten Dinge vergessen. Da war aber wieder die prächtige Mutter, die ihn zeitig an alles erinnerte, ans Essen, ans Schlafengehen, an Ausruhen. Sommer 1908 heiratete Wiechert die Tochter des verstorbenen Göttinger Juristen Ziebart, mit der ihn eine heitere und harmonische Ehe bis zu seinem Tode verband. Nun war er ganz Göttinger geworden, weder der Ruf nach Rostock, nach Königsberg, noch nach München oder an das Potsdamer geodätische Institut hat ihn von seinem geliebten Hainberg fortlocken können. 1900 wurde er zum Ordinarius ernannt; 1903 zum Mitglied der Göttinger, 1902 der Berliner Akademie gewählt.

Die Früchte langjähriger und mühsamer Arbeit stellten sich ein. In allen Teilen der Welt schrieben jetzt Wiechert'sche Seismographen. Ihre Diagramme geben ein getreues Bild der Bodenbewegung, sie sind lesbar.

Schon früher hatten A. Schmidt, Ev. Rebeur-Paschwitz, Omori, Milne und andere zwei Vorphasen und eine Hauptphase im Seismogramm unterschieden. Die Wiechert'schen gedämpften Pendel hoher Vergrößerung lieferten, je nach der Entfernung, zwei, vier, sechs Vorphasen und teilten auch die Hauptphase. Jetzt begann die Entwirrung und Deutung dieses seismischen Spektrums. Eine fröhliche, doch mühsame Arbeit für Wiechert und seine Schüler. Besondere Untersuchungen werden der physikalischen Natur der Wellen gewidmet, so wird die Lage der Schwingungsebene untersucht, der Anteil scheinbarer und wirklicher Bodenneigung bei den Wellen der Hauptphase, die Richtung der Bodenbewegung beim ersten Einsatz des ersten Vorläufers, die Periodenlängen in den einzelnen Phasen, die Emergenzwinkel des 1. Vorläufers, die Absorption der Energie der Hauptwelle und so fort. Für alle Welleneinsätze werden Laufzeiten vom Herd zur Station beschrieben und Laufzeitkurven dargestellt. Nun klärt sich das Bild:

Quer durch die Erde laufen die Raumwellen des 1. und 11. Vorläufers; sind longitudinale und transversale Wellen. An der Erdoberfläche werden sie reflektiert, einmal, zweimal, vielleicht dreimal. Rayleighwellen und Querschwingungen bilden die Hauptphase, - es sind Oberflächenwellen; sie gleiten an der Erdoberfläche entlang ohne tief einzudringen. Den Schluß bilden RückkehrweIlen, die die ganze Erde umlaufen haben.

Daran schließen sich die Untersuchung des Erdinnern mit diesen elastischen Wellen, die den Erdkörper durchstrahlen. Auch hier lagen Vorarbeiten anderer Forscher vor, wie von Rudzki, Kövesligethy, Benndorf. Sie gingen von bestimmten Voraussetzungen aus. Von solchen sucht sich Wiechert möglichst frei zu halten. Die Raumwellen dringen in die Erde ein. Ihr Wellenstrahl erreicht eine bestimmte Tiefe, besitzt dort eine bestimmte Geschwindigkeit. Kann man Scheiteltiefe und Scheitelgeschwindigkeit für jeden Strahl angeben, so läßt sich die Geschwindigkeit als Funktion der Tiefe darstellen. Die Theorie der Refraktion, wies den Weg zur mathematischen Behandlung dieser Frage. Eine konstruktive Methode und eine rechnerische wurde verwendet. Letztere basiert auf Benutzung der Abel'schen Integralgleichung; hierzu hatte Herglotz und nahe gleichzeitig von Bateman hingewiesen. Umfangreiche Zeichnungen und Rechnungen dieser Art wurden von Wiechert und seinen Schülern ausgeführt; so konnte die Geschwindigkeit ermittelt und als Funktion der Tiere dargestellt werden. Eine zusammenfassende Darstellung dieser Arbeiten über die Ausbreitung der Erdbebenwellen im Erdinnern gibt Wiechert in den Nachr. d. Gesellsch. d. Wissensch. 1907.

Schon früher hatte Wiechert Rechnungen über die Massenverteilung im Erinnern angestellt. Die Dichte der uns zugängigen Schichten der Erdrinde liegt bei 3; die mittlere Dichte bei 5,5. Tief im Erdinnern muß dann die Dichte größer sein. Nach Laplace und Legendre nimmt die Dichte nach innen stetig zu infolge der zunehmenden Drucke der überlagernden Massen. Für den Mittelpunkt berechnen Legendre, Roche, Helmert Werte bei 10 und 11. Dies widerspricht Wiecherts Anschauungen. Nach ihm sind die Moleküle sehr widerstandsfähig; schon unter dem normalen Druck an der Erdoberfläche liegen sie in festen Körpern infolge ihrer wechselseitigen Kräfte so nahe beieinander, daß sie nur wenig komprimiert werden können. Die höhere Dichte im tieferen Erdinnern muß auf Materialwechsel beruhen. Nur Metalle in Frage - Ihre beginnt bei 7. Vermutlich ist die Erde zweiteilig, ein Gesteinsmantel, ein Metallkern.

Eine richtige Annahme über die Massenverteilung im Erdinnern muß auch mit den beobachteten Werten der Abplattung, Präzession und Nutation verträglich sein. Um die weitere Rechnung zu ermöglichen wird die Dichte im Mantel und im Kern als konstant angenommen und zwar im Mantel zwischen 3,0 und 3,4. Die Rechnung ergibt dann Dimension und Dichte des Kerns: die Tiefe bis zum Kern zu 1200-1600 km, seine Dichte zu 8,0-8,4, also sehr nahe der Dichte des Eisens. Aus dem Vergleich von Präzession und Nutation mit der Abplattung folgt, daß im Erdinnern hydrostatisches Gleichgewicht besteht.

Diese Ergebnisse beruhten auf der erwähnten Annahme der Zweiteiligkeit der Erde. Die Erdbebenbeobachtungen boten nun ein Mittel, diese Annahmen zu prüfen. Die Geschwindigkeitsänderung mit der Tiefe war ermittelt; sie verlief nicht kontinuierlich. Die ersten Berechnungen konnten Wellen verfolgen, die etwa 2500 km tief hinabtauchten. Es ergab sich ein linares Anwachsen der Geschwindigkeit von der Oberfläche bis 1200 km Tiefe, um etwa 50 %; von 1200 bis 2500 km eine merkliche Konstanz. Die Erde erschien zweitweilig; die Tiefe des Kerns in guter Überstimmung mit den Berechnungen aus der Abplattung. Da kamen die Beobachtungen des Samoa-Observatoriums, sie erlaubten die Wellen tiefer hinab zu verfolgen bis nahe zum Mittelpunkt der Erde. Die Konstanz der Geschwindigkeit von 1200 km Tiefe ab bestand weiter, doch nur bis zu 2900 km dann kam ein plötzlicher Abfall um 30 % mit nur geringem Anwachsen in noch größeren Tiefen. Die Erde war 3teilig, zwei Schalen um einen Kern, den Samoa-Kern, wie Wiechert ihn benannte.

Nun konnten die Rechnungen über Massenverteilung mit Hilfe der Abplattung, Präzession und Nutation für eine 3teilige Erde angestellt werden. Die Tiefe der Schichtgrenzen war jetzt gegeben; die Dichten gesucht. Die Dichte des äußeren Mantels wurde in Übereinstimmung mit der Dichte des Mondes, der ihm zu entstammen scheint, zu 3,4 angenommen. Die Dichte der Zwischenschicht ergab sich dann bei 6, des Kerns bei 9. Wie war nun die stoffliche Zusammensetzung dieser Teile der Erde? Die physikalische Chemie kam hier zur Hilfe. War die Erde im ganzen Innern einmal flüßig, so muß sich ein physikalisch-chemisches

Gleichgewicht zwischen ihren Teilen hergestellt haben. Die Zusammensetzung der äußeren Erdrinde ist nun mit großer Genauigkeit bekannt. Nach Erfahrung an Schmelzflüssen in Hochöfen ist dann ein bestimmtes Mischungsverhältnis in den Schichten und im Kern zu erwarten: ein Silikatmantel, eine Eisensulfidschicht, darunter ein Eisennickelkern. Das paßt zu den berechneten Dichten.

Besonders wichtige Aufschlüsse ergeben sich für das elastische Verhalten der Stoffe unter den Drucken und Temperaturen des Erdinnern. Die Erdfigur lehrt das Bestehen hydrostatischen Gleichgewichts. Gegenüber der langdauernd, über Jahrmillionen wirkenden Schwerkraft ist die Erde vollständig nachgiebig, wie ein flüssiger Körper. Da die Geschwindigkeit der Transversalwellen und jetzt auch die Dichte im Erdinnern bekannt ist, läßt sich die Starrheit berechnen. Gegenüber den nur Sekunden wirkenden Deformationen der Erdbebenwellen ist die Erde mehrfach starrer als Stahl. Aber nur im Silikatmantel und der Sulfitzwischenschicht. Im Nickeleisenkern konnten wohl longitudinale, doch keine transversalen Wellen beobachtet werden. Er besitzt also keine Starrheit, er verhält sich wie eine Flüssigkeit; ist das die Folge der Wärmebewegung im Metall; trotz der überlastenden Drucke von mehreren Millionen Atmosphären?

Allmählich erwuchs so aus der Arbeit Wiecherts und seiner Schüler ein Bild des augenblicklichen Aufbaus des Erdinnern, eine Erkenntnis von großer Bedeutung auch für die Entwicklungsgeschichte unseres Planeten. Die Erde ist der einzige Weltkörper, in dessen Inneres wir dank der seismischen Methode

hineinschauen können.

Eine Reihe glücklicher Jahre verliefen für Wiechert in froher Arbeitslust verehrt von seinen Schülern und in steigender Anerkennung unter den Geophysikern. Allwöchentlich versammelten sich seine Schüler zu einem Colloquium abends zum Thee in seiner Wohnung die Institutsarbeiten wurden besprochen, auch kritisiert, sehr wohl vertrug er Einspruch; er selbst erkannte an, was eben anzuerkennen war, ging gern auf neue Ideen ein, in schneller Überschlagrechnung sie prüfend; stets heiter, frisch, oft freudig erregt, besonders wenn ein Experiment geglückt war oder wenn seine aufmerksamen und schnell bewegten Augen einen neuen Zacken im Seismogramm entdeckten; oft ein heiteres Lachen, wenn seine Seismographen, seine überempfindlichen Kinder, sich einmal besonders gut benommen hatten; ihre Unarten aber, mißglückte Versuche, drückten ihn nicht nieder, das waren Kinderkrankheiten, sogar sehr interessante, die aber bald überwunden sein würden. Über alles groß war seine Freude an der bloßen Erscheinung.

Dann kam der Krieg und die schwere Nachkriegszeit, und gerade in dieser Zeit wuchs langsam ein neues Unternehmen auf unter Wiecherts Antrieb und Leitung, das große Bedeutung gewinnen sollte. Schon vor und besonders auch während des Krieges hatten Beobachtungen über Wellen bei Explosionen stattgefunden; Schallwellen in der Luft, seismische Wellen im Boden. Die Struktur des Untergrundes und der Atmosphäre muß die Ausbreitung beeinflussen. Die Laufzeiten dieser Wellen müssen Schlüsse auf die Schichtungen von Atmosphäre und Untergrund erlauben. Hier lagen Aufgaben von praktischer Bedeutung, für die Meteorologie und für die Geologie. Anfang 1923 gelang es Wiechert die Unterstützung der Notgemeinschaft für diese großen Aufgaben zu gewinnen.

Gemeinsam mit dem Meteorologen Hergesell wurde eine großzügige Organisation geschaffen zu Forschungsarbeiten bei Sprengungen, insbesondere zur Beobachtung der in der Atmosphäre.

Auch für die zweite Aufgabe wurde eine Arbeitsgemeinschaft gebildet, wieder von der Notgemeinschaft gefördert. Gemeinsam mit der Geologie und in Zusammenarbeit der Institute in Göttingen, Jena und Potsdam wurde ein systematischer Ausbau geophysikalischer Methoden zur Erforschung der geologischen Schichtung begonnen. Eine Fülle neuer Arbeiten entstand.

Neue Seismometer wurden konstruiert, für transportable und für feste Aufstellung, von sehr hoher Vergrößerung, bis 2 Millionenfach. Ein neues Erdbebenhaus wurde gebaut. Steinbruchsprengungen wurden beobachtet, bis über 200 km weit, mehrere tausend kg Dynamit waren die dazu nötige Sprengladung. Die seismischen Wellen tauchen dabei tief in den Boden ein, mehrere km tief, 10 vielleicht 29 km. Liegt da der Boden der Kontinente?

Schallempfänger wurden gebaut, verschiedene Typen, für photographische und Rußregistrierung. Fliegende Beobachtungsstationen wurden eingerichtet, mit registrierendem Schallempfänger ausgerüstet und drahtloser Empfangsstation zur Uhrkontrolle. Dann kamen die Beobachtungen, geglückte und Fehlschläge wechselten. Die Bearbeitung folgte. In 40 km Höhe beginnt eine warme Schicht. Vielleicht beginnt hier ein neuer selbständiger Kreislauf der Atmosphäre.

In den Tiefen der Erde, in den Höhen der Atmosphäre werden neue Schichten zum ersten Male experimentell erfaßt. Noch ist dies Neue unsicher, weitere Arbeiten sind nötig. Man muß weiter hinauf bis zur Höhe der Polarlichter und tiefer hinunter bis zur isostatischen Ausgleichfläche, wo die lebendige Schicht gebirgsbildender Kräfte endet und die homogene Schichtung beginnt. Die Seismik, die Luft- und Bodenseismik, wird eine experimentelle Wissenschaft. Ein neues Forschungsmittel für Meteorologie und Geologie.

Jetzt handelt es sieh um die Feinstruktur der Erdrinde. Die Dicke der Kontinentalblöcke, die Schichtung der Meeresböden, das Massiv der Gebirge. Was bedeuten die großen und kleinen Anomalien der Schwerkraft und des erdmagnetischen Feldes: die regionalen, die lokalen, in Norddeutschland, in der Mark, in Mecklenburg, Schleswig? Was liegt unter den diluvialen Schichten des Norddeutschen Flachlandes verborgen? Ist die Verbindung zwischen dem westfälischen und schlesischen Karbon durch jüngere Tektonik in bergbaulich erreichbare Tiefe gerückt?

Seismische, gravimetrische und magnetische Methoden müssen zusammenwirken. Eine geophysikalische Vermessung Norddeutschlands mit allen geophysikalischen Methoden ist das letzte große Ziel.

Mitten in diese Arbeiten, in all diese Pläne kam die Krankheit erst schleichend, nicht gleich in der ganzen Schwere erkannt. Eine glückliche Operation schenkte ihm noch zwei Jahre wechselnden Befindens. Sie wurden ganz mit Arbeit ausgefüllt. Doch schließlich blieb auch ihm das nahe Ende nicht mehr verborgen. Nun war die Zeit kostbarer als je zuvor. Mit beispielloser Zähigkeit, mit leidenschaftlicher Energie wurde gearbeitet; der Krankheit die Zeit zur Arbeit abgerungen, immer die großen Probleme und ihre Lösung so nahe vor Augen; bis in die letzten Monate, bis in die Fieberträume der letzten Tag hinein.

Der Tod hat ihm nicht gegönnt es zu vollenden. Mitten in der Arbeit ist er gestorben.

Der weitaus größte Teil der Arbeiten Wiecherts und der von ihm geleiteten Arbeiten seiner Schüler sind experimenteller Natur: die Arbeiten über Kathodenstrahlen, über elastische und magnetische Nachwirkung, der Bau von Instrumenten zu luftelektrischen, besonders zu seismischen und Schallbeobachtungen; dann die Beobachtungen mit diesen Instrumenten, die geophysikalischen Untersuchungen über das elektrische Feld der Erde, über die Ausbreitung elektrischer und elastischer Wellen in der Erde und in der Atmosphäre.

Das besondere Gebiet in dem er gerade arbeitete, war oft durch die zufälligen Anforderungen des Augenblicks bedingt.

Doch geht durch alle seine Arbeiten das gleiche Streben nach einer universellen Auffassung der Welt, nach der Erkenntnis des Aufbaus der Materie und der mannigfachen Verkettung der materiellen Körper untereinander. Das gibt dem vielseitigen Streben einen höheren inneren Zusammenhang, der seinen letzten Ausdruck fand in zusammenfassenden Darstellungen großer Wissensgebiete. Diese führten ihn auf die Grundprobleme der Physik, so in seiner Elektrodynamik, in seiner Mechanik, in seiner Stellungnahme zur Relativitätstheorie.

Die heutige Anschauung über den Aufbau der chemischen Atome nimmt ihren Ausgang von den Beobachtungen an Kathodenstrahlen. Wiechert lieferte 1897 die erste brauchbare Messung der Geschwindigkeit dieser Strahlen durch einen geistreichen Ausbau der Des Coudres'schen Methode. Durch gleichzeitige Bestimmung der magnetischen Ablenkung ergab sich jetzt e/m und die Masse der Elektrons in weit engeren Grenzen als bisher zwischen 1/900 und 1/1900 der Masse des Wasserstoffatoms. Die Elektrizität besitzt atomare Struktur und eine bestimmte Blasse. Das führte entscheidend über die Anschauung von Maxwell , Helmholtz und Hertz hinaus. Ihnen erschien die Elektrizität zwar von atomarer Struktur, doch imponderabel, masselos. Eine neue Verkettung von Materie und Aether war erforderlich. Das Band zwischen beiden bilden jetzt die kleinen atomistischen Elementarteilchen der Elektrizität, die in allen ponderabelen Körpern enthalten sind. Die oscilierende Bewegung dieser Teilchen wird als Ursprung der Licht- und Wärmestrahlung angesehen, das Mitschwingen der ponderabelen Teilchen als Folge einer Ladung derselben.

An dem Ausbau dieser neuen Anschauungen hat, Wiechert durch eine Reihe von Arbeiten mitgewirkt, in seiner Theorie der "Elektrodynamik" und in den "Grundlagen der Elektrodynamik". Hier zeigt sich deutlich. wie auch später immer wieder, seine besondere Wesensart. Für die Beschreibung der Naturvorgänge müssen Vorstellungsbilder gewonnen werden, die sich den sinnlichen Wahrnehmungen anpassen.

Vielfach konnte er seine Vorstellungen über den Bau der Materie aus eigenen Beobachtungen schöpfen, aus seinen Versuchen mit Kathodenstrahlen, über Nachwirkung, über das elastische Verhalten und die Massenverteilung im Erdinnern. Dabei formten sich ihm Bilder über die Vorgänge in der Materie. Die bloße

Darstellung eines Vorganges in mathematischen Symbolen ohne konkrete Modellvorstellung war seinem Wesen fremd und hierin liegt auch der letzte Grund für seine Ablehnung der Relativitätstheorie, die ihm weniger sinnenfällig schien. Er bedurfte der konkreten Vorstellung eines Aethers mit ganz bestimmten Eigenschaften. Für die Relativitätstheorie ist der Aether nur ein nutzloses Beiwerk, nachdem einmal auf eine mechanische Deutung des Lichtes verzichtet war. Die formale Schönheit der Relativitätstheorie hat Wiechert indeß in seinen letzten Arbeiten anerkannt, vor allem auch ihre Leistung zwei bisher unbekannte Erscheinungen vorauszusagen: die Lichtablenkung und die Rotverschiebung.

Es muß wohl verschiedene Wege geben, die Erfahrungen befriedigend darzustellen. Variabel mit der Zeit und verschieden von Mensch zu Mensch sind die Bilder, unter denen uns die Welt erscheint; uns allen gemeinsam aber ist der Wille, sie zu verstehen. Der aber war bei Wiechert besonders groß.

 

Quelle: unbekannt

 

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